Einigen Lesern ist dieses Gefühl sicher wohlbekannt: Wir begeben uns an einen Ort, an dem wir in der Kindheit viel Zeit verbrachten, dort kommt es uns sehr vertraut vor. Wir kennen jeden Baum und jeden Stein und wir fühlen uns ausgesprochen wohl, so als würden
wir einem Teil unserer selbst dort begegnen. Auch ein Besuch im Elternhaus kann in uns dieses Gefühl auslösen. Der Anblick der Treppe, die Bilder an der Wand, das Muster einer alten Tapete kann dieses vertraute Gefühl wecken – selbst dann, wenn wir die Tapete nie besonders schön fanden...
Dieses Gefühl der Vertrautheit ist uns an anderen Orten vielleicht nie mehr so begegnet, wie an dem Ort, an dem wir als Kind viel gespielt haben. Wir können uns in einer neuen Umgebung, oft auch noch nach Jahren, fremd fühlen. Fremd ist vielleicht etwas überspitzt formuliert, aber dieses Gefühl der Vertrautheit, dieses eins sein mit der Umgebung und jeden Zentimeter des Raumes genau zu kennen, fehlt in der neuen Umgebung. In diesem Beitrag möchte ich dieses Gefühl oder Empfinden unter die Lupe nehmen.
Denjenigen LeserInnen, denen meine Artikel über die Gefühle bekannt sind, stellt sich jetzt wahrscheinlich die berechtigte Frage, was für eine Art Gefühl dieses »sich fremd Fühlen« denn sein soll. Es ist nämlich kein Gefühl, das in meinem Modell der fünf Gefühle auftaucht; genauso übrigens wie Vertrauen, das ich dort auch nicht dazu zähle. Sich fremd fühlen kann eine Form der Angst sein. Es kann sich dabei aber auch um eine Form der Liebe handeln. Dies werde ich hier näher erläutern. In meiner Wahrnehmung sind Gefühle »Flüssigkeiten « im Körper, die »strahlen«. Man strahlt immer, weil ständig ein Gefühl oder mehrere Gefühle aktiv sind, wenn auch mit unterschiedlichen Intensitäten. Je stärker ein Gefühl ist, desto stärker die Strahlung. Diese Strahlung ist sehr individuell, da jeder Mensch auf einzigartige Art und Weise auf die Umwelt reagiert, unterschiedlich empfindet und auf bestimmte Dinge anspricht.
Doch nun zu dem »sich fremd Fühlen« in Bezug auf die Umgebung. Stellen Sie sich diese Situation vor: Einem Menschen wird ein wunderschöner Garten geschenkt, und er steht mitten drin. Er liebt den Anblick des Gartens, und diese Liebe strahlt alles im Garten an. Er wird von allem, was sich im Garten befindet, ebenfalls mit Liebe angestrahlt. Doch stellen Sie sich auch vor, dass er exakt auf der Stelle, auf der er sich befindet, stehenbleiben muss. Er darf nichts berühren, er darf nichts im Garten erkunden, er darf nicht einmal an den Blumen riechen. Er darf also nichts anfassen und nicht im Garten umher gehen. Er darf ihn lediglich aus dieser einzigen Position betrachten, sonst nichts.
Vielleicht ist diese Vorstellung in den ersten fünf Minuten nicht unangenehm, aber mit der Zeit wird es dies mit Sicherheit. Auch wenn der Garten wunderschön ist, die Interaktion mit dem Garten fehlt einfach. Das Gefühl, dass es der eigene Garten ist, wird sich nicht so leicht einstellen, wenn man nur schaut. Wenn Sie nun diesen wunderschönen neuen Garten mit einem anderen Garten vergleichen, der vielleicht nicht so schön ist, von dem Sie aber jeden Zentimeter kennen, dann wissen Sie von was ich spreche.
Der Mensch tauscht sich mit seiner Umgebung aus Die Liebe strahlt zwar, aber die Handlungsebene ist für den Menschen auch sehr wichtig. Er möchte in dieser Liebe handeln können. Er möchte das Gras unter den Füssen spüren und die Blumen aus der Nähe betrachten, vielleicht selbst etwas anpflanzen und sich im Garten frei bewegen können. Nur anschauen dürfen, ist zu wenig, es braucht Interaktion und Austausch. Diese Interaktion findet auf der Handlungsebene statt und ist daher mit dem Ego verbunden. In dieser Interaktion tauscht sich jeder Mensch auf seine einzigartige Weise mit seiner Umgebung aus, es entstehen Erfahrungen und Erinnerungen, die sowohl den Menschen als auch seine Umgebung bereichern. In meiner Wahrnehmung wohnt der Umgebung auch eine Art von Bewusstsein inne. Sie empfängt die Liebe des Menschen und erwidert sie, und das gilt nicht nur für die Natur, sondern auch für die von Menschen gefertigten Dinge und Materialien, da auch dies schlussendlich aus der Natur stammt. Dieser Austausch ist jeweils im Moment des Geschehens vorhanden, das was daraus entsteht, scheint sich aber im Verlaufe der Zeit, je öfter es geschieht, je mehr anzuhäufen. Die Umgebung nimmt etwas von einem auf, und darin kann man sich ein bisschen selbst fühlen. Mit der Zeit entsteht so das Empfinden von Vertrautheit – oder anders gesagt: eine Liebe.
Je intensiver die Liebe ist, je mehr man sich im Austausch befindet, desto mehr Anteile von sich selbst wird man im Garten spüren.