Ob Zeit Geld ist, ist in meiner Arztkarriere immer wieder ein Thema gewesen. Jeder Arzt wird in einer Statistik geführt. Er wird verglichen mit »gleich arbeitenden Kollegen mit gleicher oder ähnlicher Fachrichtung «, damit man aus deren Zahlen, die zentral von den Krankenversicherern gesammelt werden, eine statistische Auswertung anfertigen kann. Daraus wird gelesen, welche Kosten der Arzt pro Patient pro Jahr auslöst – welche Kosten an Medikamenten und an veranlassten Kosten für Labor oder andere auswärtige Therapien (z. B. Physiotherapie). Falls man als Arzt mehr als 133 Prozent an Gesamtkosten generiert hat, verglichen mit den Kosten der Kollegen, dann muss man sich rechtfertigen, weshalb. Das kann beispielsweise sein, weil man viele ältere Patienten oder
viele Tumorkranke betreut.
Bei mir hat man in den ersten zwei Jahren meiner Tätigkeit auch zu hohe Kosten in der Statistik gefunden. Man sagte mir damals noch, dass die ersten zwei Jahre als Kulanzjahre angesehen werden, da ja jeder Patient in einer neuen Praxis «neu» ist und schon deshalb ein Mehraufwand bestehe, alles aufzunehmen. Leider ging das beim Beanstanden »vergessen«, und so musste ich mich rechtfertigen. Als ich meine Daten daraufhin genauer analysierte, fand ich heraus, dass ich mir einfach zu viel Zeit pro Patient pro Jahr nahm, denn ich hatte tiefe Medikamentenkosten, verschwindend tiefe Laborkosten (Fr. 4000.-/Jahr für ca. 800 Patienten!) und kaum auswertige Kosten.
Unerwünscht: Sich viel Zeit für den Patienten zu nehmen
So führte ich eine kleine Patientenbefragung durch, bei der man unter anderem auch die Kosten vor und nach meinen Therapien bewerten konnte. Kurzum, ich konnte zeigen, dass nach den Therapien deutlich Kosten eingespart wurden und dass die Mehrkosten eindeutig auf zu viel Zeit pro Patient bei der ersten und zweiten Konsultation zurückzuführen waren. Zeit ist im Abrechnungssystem der Ärzte eine der am wenigsten honorierten Positionen – technische Leistungen wie Röntgen oder EKG sind viel besser honoriert. Und je mehr Patienten man pro Tag einbestellt, umso mehr »Überschneidungen« in der Zeitabrechnung können gemacht werden, sodass man dann einen höheren Stundenansatz generiert. Also war ich ein Arzt, der sich zwar pro Patient mehr Zeit nimmt, dafür aber weniger pro Stunde verdient, längerfristig Kosten einspart und den Patienten mündiger und damit gesünder macht, aber in der Statistik als »zu teuer« taxiert wurde, und das zu viel eingezogene Geld schliesslich der Gemeinschaft der Krankenkassen zurückzubezahlen hatte. Was für ein Hohn! Doch leider ist dies die Realität im Gesundheitswesen. Wer also deutlich weniger als die Kollegen im Schnitt an Kosten verursacht, bekommt nicht – wie zu erwarten wäre – von den Krankenversicherern einen Bonus. Sondern das drückt einfach den Gesamtschnitt nach unten, und damit muss jeder wieder noch weniger verlangen, ansonsten man ja zurückzahlen muss. Ein einseitiges Malussystem, das es sonst nirgends auf der Welt für gute Arbeit gibt. Ich möchte mich aber nicht beklagen, denn ich habe daraus gelernt. Ich versuche immer noch jedem Patienten mehr als genug Zeit zu geben, damit ich auch wirklich den Grund seiner Probleme eruieren kann, aber ich komme nicht umhin, auch kleinste Rechnungen zu stellen, damit ich in der Statistik einen besseren Gesamtschnitt erreiche – alles nur eine rechnerische Sache!
Unsinnige neue Gesetzgebung
Wie wichtig die Zeit ist, die man sich für das Gegenüber nimmt, ist wohl jedem klar, der schon einmal in einer Situation gesteckt hat, in der man einfach jemanden brauchte, der einem Zeit schenkt und ihm zuhört. So geschehen, als ich vor gut einem Jahr eine Patientin das erste Mal in der Sprechstunde gesehen hatte und sie mir schon kurz nach der gegenseitigen Vorstellung klar mitteilte, dass sie eigentlich nur gekommen sei, um sich für »ewig zu verabschieden«. Sie befand sich in einer derart auswegslosen und körperlich desaströsen Situation und wollte einfach jemandem auf Wiedersehen sagen, bevor sie sich umbringen wollte. Sie können sich vorstellen, wie geschockt und gleichzeitig alarmiert ich war. Ich versuchte Zeit zu schinden, denn sie wollte sich nicht einmal auf ein Gespräch einlassen. Doch dank behutsamem Vorgehen gelang es mir, soweit zu ihr vorzudringen, dass sie sich vorstellen konnte, sich vielleicht nochmals bei mir zu melden, anstatt sich gleich umzubringen. Ich war offen und ehrlich zu ihr, zeigte ihr auf, dass es trotz ihrer Lage immer eine Möglichkeit gibt, etwas zu verbessern, und versprach ihr, mir genug Zeit für sie zu nehmen, wenn sie wirklich an sich und mit sich arbeiten liesse. Scheinbar war die gegenseitige Empathie genug gross, denn sie überwand ihre Zweifel und meldete sich nochmals bei mir zu einem Gespräch an.
Heute, ein Jahr danach, sind alle ihre massiven Körperschmerzen weg, ihre auswegslose Lebenssituation konnte sie selbst lösen, und uns verbindet ein immer tieferes Band von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung, womit sie immer wieder neuen Mut findet, ihr Leben selbst zu bestimmen und damit sich auch selbst zu heilen.
Im neuen Tarmedtarif, dem ärztlichen Abrechnungssystem, wird ab 2018 verlangt, dass eine Konsultation nicht länger als 20 Minuten dauern darf … Dieser Frau hätte das buchstäblich das Leben gekostet! Deshalb stelle ich die Frage in Raum: Darf man überhaupt eine
Zeitlimite geben, oder ist sie nicht einfach durch die Situation schon vorgegeben?